Das kleine JetzT
Wenn das kleine Jetzt morgens die Augen aufschlägt ist es total aufgeregt. So ist es auch an diesem Morgen. Mit einem. Purzelbaum verlässt es das Bett. Es bahnt sich lachend und zerzaust einen Weg durch Pullover und Hosen, Strümpfe, Zeitungen und sonstige Dinge, die den Weg zwar in sein Schlafzimmer, aber nicht auf den dafür vorgesehenen Stuhl oder Nachtschrank gefunden haben. Oh - fast wäre es ausgerutscht.
Das kleine Jetzt quietscht vor Vergnügen. Genauso muss er sein, der neue Tag. Gleich nach 50 Zentimetern schon das Gefühl haben, den Herausforderungen des Lebens gewachsen zu sein. Dem Spiegel sagte es kurz: Na, auch schon wach, wirft sich zwei Hände Wasser ins Gesicht, lächelt die Zahnbürste an und gibt der Badezimmertür einen Schubs.
In der Küche stapeln sich Teller und Pfannen (also, die zwei, die es hat - zwei Teller, eine Pfanne). Mehr braucht es nicht. Von den drei Tassen - andere sagen es wären Mädchentassen, weil sie rosa sind und Einhörner und chinesische Ikebana Muster tragen - wählt es sich die aus, die die größte Macke hat. „Alles hat einen Knacks“ denkt es und spült sie mit kaltem Wasser aus - bevor es sich den Kaffee von gestern eingießt. "Schmeckt immer noch wie Kaffee. Geht doch. Frischer Kaffee wird überbewertet."
Es legt die Füße auf den Tisch. Nimmt sie wieder runter. Es legt sie wieder auf den Tisch. Nimmt sie wieder runter. Springt auf - geht zum Fenster. Öffnet es und schreit laut - so dass es alle hören können:
"GUTEN MORGEN ALLE MITEINANDER. Ich wär dann soweit. Was geht ab, ej… "
und es springt in seine ausgelatschten Schuhe, rennt aus der Tür. Schlägt dabei drei Röder und macht einen Flick flach, freut sich wie ein Schneekönig. Und stellt fest, dass die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen ist. Schade. Sehr schade. Stellt sich fest, dass der Schlüssel drinnen liegt. Wie immer. Naja. Wird schon.
Da das kleine Jetzt gar keinen Plan hat und jeden Tag so auf sich zukommen lässt - "Wer etwas auf sich zukommen lässt muss hinter nichts verrennen." (eine der Lieblingsweisheiten des kleinen Jetzt) - macht es alles so wie es kommt. Es springt über den Gartenzaun, läuft erst ein paar Meter auf der einen Straßenseite, vorbei an den wunderbaren Kastanienbäumen. Es kickt drei Kastanien aus dem Weg, hebt drei andere wieder auf, steckt sie in die Hosentasche - in der kein Loch ist - , wechselt die Straßenseite und springt mit größeren Sprüngen in Richtung Innenstadt. Dabei ruft es laut, im gleichen Takt, in dem es springt: "Eins, zwei drei" … und klatscht sich vor Vergnügen auf die kurzen Beine. Diese Art der Fortbewegung ist die Allerbeste. Und man kommt zügig voran. Noch drei Häuserecken links hinter sich lassen, einmal durch den Stadtpark und trara - die Innenstadt ist erreicht. Oh - heute ist ja die Neueröffnung des Schreibwarenladens… Da könnte es mal hingehen. Irgendwann.
Das grosse Jetzt
Das große Jetzt erwacht durch das eindringliche Piepsen des Weckers. Des inneren Weckers.
Noch vor der Zeit sortiert ea seine überaus langen Knochen. Zieht jedes Gelenk an die richtige Stelle. Es ist gut wenn man die Knochen knacken hört. Dann erhebt es sich aus dem Bett. Die Füsse finden automatisch den Weg in die am Vorabend akribisch im Abstand von 12,7 cm neben dem Bett aufgestellten gefilzten Hausschuhen. Farbe braun.
Der Morgenmantel liegt bereit. Natürlich gefaltet auf dem Stuhl im Schlafzimmer. Im angrenzenden Badezimmer beginnt seine morgendliche Körperpflege. Es erinnert sich daran, dass es nicht vergessen darf eine neue Massagebürste zu kaufen. Gebürstet und gesäubert, das Handtuch fein säuberlich an den dafür zuständigen Handtuchhalter gehängt - es gibt übrigens drei Handtücher ( eins für Gesicht, eins für den Körper und ein für unten) steigt es in seinen Anzug. Und streift die Armbanduhr über.
Er betrachtet sie und stöhnt ein wenig, denn es wird ein anstrengender Tag werden. Zum Glück - es streichelt sich innerlich über den gut gekämmten Kopf - ist es so gut sortiert, dass es ihm keinen Stress bereiten wird.
In der Küche ist der Kaffeetisch - den hat es am Vorabend vorbereitet hat - schon gedeckt. Der Kaffee dank Zeitschaltuhr an der Kaffeemaschine schon durchgelaufen. Das große Jetzt schaut indem Terminkalender, dann wieder auf die Armbanduhr. Es erhebt sich und steht - nachdem es sich noch einmal die Zähne gebürstet hat - auf der Straße. Bepackt mit Tasche und natürlich mit Schlüssel.
Das große Jetzt ist wichtig. Es fühlt sich gebraucht und anerkannt. Es plant und bereitet vor. Feiern , Events, traurige und fröhliche Anlässe. Wo auch immer jemand etwas vorzubereiten hat . Das große Jetzt ist zur Stelle und hilft akribisch mit. Listen werden geschrieben, abgehakt, neue erstellt. Probleme erörtert, Verabredungen getroffen, neue Probleme erörtert, Fragen gestellt. Das große Jetzt ist ein Meister der Organisation - und ist sehr stolz auf sich, weil alles gelingt. Die Menschen verneigen sich vor Ehrfurcht. Gelernt ist gelernt.
Als das große Jetzt an diesem Tag seinen Arbeitsplatz erreicht - in diesem Fall sprechen wir von der Eröffnung eines Schreibwarengeschäftes direkt an der Fußgängerzone einer mittelgroßen Kleinstadt, erwartet ihn aufgeregt der Geschäftsinhaber. Das ist übrigens nichts Neues, denn der Geschäftsinhaber ist immer aufgeregt. Er hat einen hochroten Kopf und stürmt auf das große Jetzt zu.
(Natürlich ist die Geschichte hier noch nicht fertig. Wie es weitergeht mit dem "Kleinen und großen Jetzt" werdet ihr irgendwann später erfahren...)
Das kleine und das grosse Jetzt
Illustration: Eva Anna Frank, Berlin
Text: Claudia Meyer, Sittensen
copyright by edition worte&werke, Sittensen
Abdruck nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages