Lebensgeschichte auf einer Kassenrolle


 

Als die beste Freundin von allen anrief und sagte: „Mama ist gestorben.“, war klar, dass sich in ihrem Leben Dinge ändern würden. 

Keine Telefonate mehr.

Keine Besuche. 

Das Elternhaus würde eine Weile leer stehen.

 

Eine Geschichte war zu Ende gegangen. Eine lange Lebensgeschichte. 

Ich war sehr betroffen.

Ich fühlte mit ihr. 

 

Was sollte ich denn jetzt sagen. 

Dass es mir sehr leid tat - das wusste sie. Hatte ich sie doch auf diesem Weg begleitet. 

Viel hatten wir geredet in den vergangenen Tagen. Ich war ihr sehr dankbar, dass sie so vieles mit mir geteilt hatte. 

Und jetzt. 

Konnte ich irgendetwas tun?

Ehrlich gesagt war ich überfordert. 

 

Mein Blick ging über meinen Schreibtisch. 

Ich sah die Kassenrollen. 

Eigentlich wollte ich sie bei meinen Konfirmanden nutzen. 

 

Ich nahm eine, rollte sie vorsichtig ab und begann zu schreiben. 

Ungefähr so: 

 

„Am Anfang des Lebens ist da dieses Eine: „Fürchte dich nicht. Ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir.“

 

Ich merkte, wie vor mir Bilder entstanden. Lebensbilder. Die Geschichte ihrer Mutter. Darüber hatten wir in den vergangenen Tagen oft gesprochen.

In mir entstand ein Gedanke. Wie wäre es, wenn ich statt eines Trauerbriefes ihr diese Kassenrolle gebe und sage: 

 

„Ich lade dich ein. In einem Moment, in dem alles rund um die anstehende Beerdigung besprochen ist, diese Rolle abzurollen. Vielleicht kannst du darauf etwas schreiben über das Leben. Das Leben deiner Mutter. Begegnungen, Geburtstage, Hochzeitstag, besondere Momente, die ihr miteinander geteilt habt. Dinge, Worte, die du nicht vergessen möchtest. Schönes und wenn du magst, vielleicht auch nicht so Schönes. 

Etwas, das bleibt. Von deiner Mutter.

Und dann, falls du noch nicht am Ende der Rolle angekommen bist“ - und ich machte eine Pause -  „rollst du die ganze Rolle bis zum Ende ab." 

 

Denn auch am Ende der Rolle hatte ich etwas aufgeschrieben. 

 

„Am Ende des Lebens ist da die Gnade. Sie erwartet dich mit offenen Armen. Du bist zuhause angekommen.“

 

Ich weiß mittlerweile, dass es ihr gefallen hat. 

Dass die beste Freundin von allen sich Zeit genommen hat, das Leben zu bedenken und etwas aufzuschreiben. 

 

Ein Leben - geborgen zwischen „Fürchte dich nicht“ und der Gnade. 

 

Mehr braucht es manchmal nicht. 

- im November 2020 -